Wenn Gewerkschaftsmitglieder AfD wählen

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Interview zu einer Studie über den Einfluss der AfD unter Gewerkschaftsmitgliedern

Bei den letzten Wahlen zum Bundestag, zu den Landtagen und zum EU-Parlament hat die rechte AfD zum Teil sehr hohe Gewinne erzielen können. Obwohl die Gewerkschaften eindeutig gegen die Rechtspopulisten Stellung beziehen, war besonders unter männlichen Gewerkschaftsmitgliedern der Zuspruch zur AfD überproportional hoch. An der TU Darmstadt wurde im Fachbereich Soziologie eine Studie erstellt, die nach möglichen Gründen dieses Zusammenhanges fragt. Deren Ergebnisse sind wichtig, um den Aufstieg der AfD verstehen zu können und um Konsequenzen für die Gewerkschaften abzuleiten. Wir befragten hierzu Prof. Ulrich Brinkmann (UB) sowie Maren Hassan-Beik (MHB) und Lukas Zappino (LZ) vom Projektteam.

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Frage: Wie seid Ihr bei eurer Studie vorgegangen? Wer wurde befragt?

MHB: Wir haben engagierte Gewerkschafter*innen in Bildungsseminaren des IG Metall Bezirk Mitte (Hessen, Thüringen, Rheinland-Pfalz) befragt, sowohl in Form von Fragebögen als auch in Interviews.

Die Befragten, größtenteils Gewerkschafter*innen, die an Bildungsseminaren teilnehmen, aber auch betriebliche Funktionär*innen, haben in der Gewerkschaft eine Scharnierfunktion, da sie zwischen dem gewerkschaftlichen Apparat und den Mitgliedern vermitteln. Sie kennen beide Seiten und vor allem die betriebliche Wirklichkeit und relevante Problemlagen im Arbeitsalltag sehr gut.

Frage: Was waren die Themen der Befragung?

UB: Wir haben vermutet, dass rechtes Wahlverhalten in der Arbeiterschaft Ausdruck einer multidimensionalen Krise ist. Wir haben eine kulturelle Krise, in der alte Wertvorstellungen und Rollenverteilungen in Frage gestellt werden, wir haben die Angst vor dem sozialen Abstieg, wie sie von Oliver Nachtwey ausgeführt wurde und eine Krise der Demokratie. Viele Menschen sind nicht „politikverdrossen“, sondern sie sind verdrossen von der aktuellen Politik und ihren Repräsentant*innen. Zu diesen Themenkomplexen haben wir Fragen zusammengestellt und in Interviews versucht, ein tieferes Verständnis für die jeweiligen Einstellungen und Meinungen zu bekommen.

Frage: Könnt ihr bitte die verschiedenen Krisenerscheinungen noch einmal kurz ausführen?

MHB: Die politische Krise ist ausführlich in der der Postdemokratie-These von Colin Crouch beschrieben worden. Crouch beschreibt, dass die westlichen Demokratien zur innerlichen Erosion tendieren. Zwar finden noch demokratische Verfahren wie Wahlen statt, aber soziale Interessen werden den Anforderungen der Märkte untergeordnet. Ursache hierfür ist u.a., dass handlungsfähige Kollektive, die die Interessen der Lohnabhängigen vertreten und durchsetzen können, geschwächt werden. Diese Entwicklung ist gerade auch von den etablierten Parteien mitgetragen worden.

Die sozioökonomische Krise wird erlebt als ökonomische Benachteiligung, in der Entwertung der eigenen Qualifizierung und des Erfahrungswissens. Am eigenen Arbeitsplatz wird die ständige Verdichtung der Arbeit und die anhaltende Verunsicherung durch dauernde Umstrukturierungen erlebt. Die soziale Situation kann nicht auf das aktuelle Einkommen reduziert werden, sondern wichtig ist auch die subjektive Dimension, die Angst vor dem Abstieg und zukünftigen Entwicklungen.

LZ: Die kulturelle Krise entlehnen wir nicht zuletzt der Diagnose der Abstiegsgesellschaft von Oliver Nachtwey.  Kollektive, klassensolidaritätsbasierte Deutungsmuster der aufgezeigten Problematiken schwinden, während die wiederkehrenden sozialen und nicht selten existenziellen Risiken re-individualisiert werden.

Wir betrachten diese Krise als Ausdruck einer Krise des hegemonialen Neoliberalismus. Die skizzierten Krisen kulminieren in Abstiegsangst und dem Gefühl gesellschaftlicher Entwicklung quasi ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Was verloren geht, ist das Gefühl, noch über Einfluss und Kontrolle auf die eigenen Lebensumstände zu verfügen. Hinzu kommt die Erosion des Vertrauens in die politische Lösungsfähigkeit – gerade für diejenigen Befragten, die rechte Tendenzen aufweisen, ist diese Kombination geradezu charakteristisch.

UB: Eigenes Versagen wird heute als individuelles Versagen gesehen, und nicht in Zusammenhang von den Prägungen durch gesellschaftliche Strukturen. In den letzten Jahrzehnten sind die Erfahrungen von Kollektivität verloren gegangen und eine langer Prozess der Erosion von kulturellem Selbstverständnis hat eingesetzt. Und in diese Verunsicherung stößt die AfD hinein: sie macht Deutungsangebote, z. B. wird der Verteilungskampf umgedeutet in einen Kampf zwischen Deutschen und Flüchtlingen..

Frage: Werden diese Krisenerscheinungen von den Befragten unterschiedlich wahrgenommen?

MHB: Die Auswertung der Fragebögen und der Interviews ergab, dass es sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der Krisen unter den Befragten gibt. Wir konnten aber drei Gruppen mit ähnlichem Antwortverhalten ausmachen. Dies waren:

Einmal die „Verunsicherten“. Sie haben ausgeprägte Abstiegssorgen, verbunden mit einem enormen politische Vertrauensverlust und eigenen Ohnmachtsgefühlen. Die Perspektive von kollektiven Handlungsmöglichkeiten wird von ihnen nicht gesehen. Hier finden wir auch eine hohe Fremdenfeindlichkeit.

Dann die „Befriedeten“, eine Art Zwischengruppe. Im Unterschied zu den anderen Gruppen üben sie eine geringe Sozialkritik und fühlen eine relative Sicherheit im Kapitalismus. Es sind überwiegend jüngere Kolleg*innen, die noch wenig politischen Handlungsdruck zu verspüren scheinen.

Die „Sozialkritischen“ äußern am meisten Sozialkritik und ein Unbehagen im Kapitalismus. Sie sind eher krisenresistent, äußern weniger Abstiegsängste und sehen sich selbst als politisch handlungsfähig. Fremdenfeindlichen Aussagen erhalten bei ihnen die geringste Zustimmung. Viele dieser Gruppe sind über 55 Jahre alt.

Frage: Was bedeutet das für das Wahlverhalten?

UB: Im Wahlverhalten zeigen diese drei Gruppen eklatante Unterschiede. Während die AfD bei den „Verunsicherten“ auf Werte von etwa 30 % kommt, sind es in den anderen zwei Gruppen lediglich 5 %.

Frage: Nach den Wahlen in Thüringen gab es im Spiegel ein Interview mit Alexander Yendell vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung. Er behauptet, dass wirtschaftliche Benachteiligung nicht den Erfolg der AfD erklären kann. Viel wichtiger sei vielmehr eine grundsätzliche fremdenfeindliche Einstellung.

MHB: Selbstverständlich reichen sozio-ökonomische Determinanten für die Erklärung des Erfolgs der AfD nicht aus. Unsere Befragten nehmen die von uns beschriebenen Krisen sehr komplex und unterschiedlich gewichtet wahr. Uns ging es auch darum, die Entstehung der Deutungsmuster, darunter auch Fremdenfeindlichkeit, zu erklären und auf die gesellschaftliche Situation zurückzuführen.

LZ: Fremdenfeindliche Einstellungen finden sich zunächst einmal auch bei Wähler*innen im mittleren Parteispektrum, das zeigen auch unsere Ergebnisse. Dies verdeutlicht zweierlei: zum einen muss das Problem rechter Tendenzen viel ernster genommen werden, als es in der Öffentlichkeit geschieht. Zum anderen zeigt sich, dass jenseits grundlegender autoritärer Strömungen, wie sie bereits die Studien der Frankfurter Schule nachgewiesen haben, erklärungsbedürftig bleibt, weswegen sich diese aktuell Bahn brechen können. Die Interviews verdeutlichen auch nochmal wie komplex die Thematik ist. Wir sind z.B. teilweise Personen begegnet, die Unbehagen mit einer offenen Grenzpolitik äußern, zugleich aber im Privaten keinen Kontakt mit Geflüchteten scheuen oder diesen auch haben. Die Frage wäre daher, woher das Unbehagen rührt.

UB: Wir haben in unserer Untersuchung festgestellt, dass der Anteil der AfD-Wähler*innen bei den prekär Beschäftigten mit 30 Prozent am höchsten ist, bei den anderen nur 5 Prozent. Da wo die Verunsicherung am größten ist und die Ohnmachtserfahrung vorherrscht, da gewinnt die AfD. Wir haben aber nicht nur Zahlen ermittelt, sondern auch mit den Leuten geredet. Diejenigen, die sagen „das sind alles Rassisten“ sollten für ihre Studien durchaus mal mit den Leuten, also ihrem „Forschungsgegenstand“, reden. Wir haben beides gemacht, Fragebogen ausgewertet und Interviews gemacht. In den Zahlen sehen wir das bestätigt, was wir in den Interviews erfahren haben.

Frage: Was bedeutet das für die Gewerkschaften? Wie könnten sie der Rechtsentwicklung entgegenwirken?

UB: Die Gewerkschaften spielen eine eminent wichtige Rolle. Sie genießen nach wie vor ein berechtigtes großes Vertrauen. Wir wissen, dass ein großer Teil die AfD aus Enttäuschung über die etablierten Parteien wählt, sie sind noch keine Stammwähler, keine überzeugten Rechten. Aber das Fenster schließt sich, und es gibt dringenden Handlungsbedarf. 85 Prozent unserer Befragten wünschen sich eine offensivere und stärker konfliktorientierte Gewerkschaftspolitik. Das müssen sich die Gewerkschaften unbedingt vergegenwärtigen. Nur wenn sie kämpfen, können sie diesen Vertrauensvorschuss behalten. Die Erfahrung kollektiven Handelns ist wichtig, das Gefühl gemeinsam etwas durchsetzen zu können. Nur so kann den Beschäftigten die Ohnmachtserfahrung genommen werden.

Der politische Kampf wird für die Gewerkschaften immer wichtiger. Dazu gehört auch die politische Bildungsarbeit in den Gewerkschaften. Der Begriff des Kapitalismus muss sich wieder angeeignet werden, damit die Menschen ihre betrieblichen Erfahrungen verarbeiten können.

Frage: Wie sollten wir im Betrieb und in den Gewerkschaften mit Kolleg*innen umgehen, die rechtspopulistische Positionen vertreten?

UB: Wichtig ist es, die Etablierung rechter Strukturen in den Betrieben zu verhindern. Wenn die sich erst mal etabliert haben, kriegt man sie nicht mehr einfach hinaus. Aber grundsätzlich ist es ein Fehler, nicht mit denen zu reden, die die AfD wählen. Es ist falsch, sie einfach als Nazis oder Rassisten zu beschimpfen. Dann machen die dicht und hören uns nicht mehr zu. Das sind ja nicht alles Nazis. Das sind Leute, die bei den letzten Wahlen oft noch Linkspartei oder SPD gewählt haben. Das ist das Problem wenn gesagt wird, das seinen alles Rassisten: Dass man mit denen nicht mehr redet. Wir müssen mit denen reden, müssen ihnen zuhören, damit wir auf ihre Argumente eingehen können.

LZ: Das heißt nicht, dass man deren Argumente übernimmt – es geht vielmehr um Aufklärung und um Entkräftung der Argumente. Gerade im betrieblichen Alltag ist das möglich, aber letztlich auch unausweichlich. Es geht darum, Ursachen sozialer Konflikte aufzuzeigen und z.B. durch solidarisches Miteinander und Kampforientierung zu zeigen, dass Veränderungen durch Solidarität möglich sind. Gerade diese Erfahrung inspiriert z.B. viele Auszubildende, die sich antirassistisch äußern. Sicherlich gibt es andererseits auch Personen, die auch mit Argumenten und Aufklärung nicht mehr erreichbar sind – hier hilft nur die sogenannte klare Kante.

U. Brinkmann / M. Hassan-Beik / L.Zappino
18.11.2019